Einleitung: Bekämpfung von Drogenkonsum aus strafrechtlicher Sicht
Die Bekämpfung des Drogenmissbrauchs ist nicht nur Teil der Gesundheitspolitik, sondern auch ein zentrales Anliegen des Strafrechts. Dabei kommt es auf das Gleichgewicht zwischen Bestrafung und Rehabilitierung an – mit dem Ziel, die betroffene Person wieder in die Gesellschaft zu integrieren.
In diesem Zusammenhang stellt § 191 des türkischen Strafgesetzbuches (TCK) das Besitzen von Drogen zum Eigenkonsum nicht nur als strafbare Handlung dar, sondern auch als Gelegenheit zur Therapie und gesellschaftlichen Wiedereingliederung.
Was regelt § 191 TCK? Tatbestandsmerkmale des Drogenbesitzes zum Eigenverbrauch
Definition der Straftat
Nach § 191 TCK gilt als strafbar:
Strafmaß
Das Gesetz sieht eine Freiheitsstrafe von 2 bis 5 Jahren vor. Bei erstmaliger Tatbegehung kann die Strafe jedoch durch alternative Maßnahmen wie Bewährung, Therapie oder die Anwendung der Zurückstellung des Strafurteils (HAGB) gemäß § 231 der StPO ausgesetzt werden.
Abgrenzung: § 188 TCK (Drogenhandel) vs. § 191 TCK (Eigenkonsum)
Ein zentraler Unterschied im Drogenstrafrecht liegt zwischen dem Eigenkonsum und dem gewerblichen Handel:
§ 188 TCK: Regelt Herstellung, Verkauf, Weitergabe oder Transport von Drogen.
§ 191 TCK: Betrifft ausschließlich Besitz und Konsum zum Eigengebrauch.
Kriterien zur Bestimmung des Tatcharakters
Gerichte berücksichtigen zur Einordnung folgende Punkte:
Menge und Verpackung der sichergestellten Substanz
Aussagen des Beschuldigten und bisheriges Konsumverhalten
Hinweise auf Weiterverkauf an Dritte
Digitale Spuren (Nachrichten, Anrufe, Social-Media)
Ob die Droge in mehreren Einheiten oder als Ganzes sichergestellt wurde
Wenn kein eindeutiger Verkaufswille nachgewiesen werden kann, greift der Grundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten" – und es erfolgt eine Bewertung nach § 191 TCK.
HAGB: Zurückstellung der Urteilsverkündung (§ 231 StPO)
Was ist HAGB?
Laut § 231 der türkischen Strafprozessordnung bedeutet HAGB, dass ein Strafurteil für fünf Jahre nicht verkündet wird. Hält sich der Angeklagte in dieser Zeit an alle Auflagen und begeht keine neuen Straftaten, gilt das Urteil als nicht ergangen und erscheint nicht im Führungszeugnis.
Verbindung zwischen § 191 TCK und HAGB
Bei erstmaliger Tat nach § 191 TCK kann die Staatsanwaltschaft HAGB beantragen. Zusammen mit Therapie und Bewährung zielt diese Maßnahme auf Wiedereingliederung statt Inhaftierung ab.
Voraussetzungen für die Anwendung von HAGB
Keine Vorstrafe wegen vorsätzlicher Straftat
Die Tat muss dem Eigenkonsum dienen
Das Gericht muss überzeugt sein, dass keine Wiederholungsgefahr besteht
Der Angeklagte erklärt sich bereit, entstandene Schäden ggf. zu ersetzen und an Auflagen mitzuwirken
Bewährungs- und Therapieauflagen nach § 191 TCK
Gemäß § 191 Abs. 3 TCK wird bei Anwendung von HAGB auch eine einjährige Bewährungszeit angeordnet, mit möglichen Auflagen:
Überweisung an eine Suchtklinik
Medizinische Untersuchungen und Kontrollen
Teilnahme an Schulungen und sozialen Programmen
Regelmäßige Drogentests
Bei Nichterfüllung wird die HAGB widerrufen, das Urteil verkündet und die Strafe vollstreckt.
Rechtsprechung zu HAGB und Tatqualifikation
Beispielhafte Entscheidung
In vielen Fällen erfolgt die Anklage zunächst wegen Drogenhandels (§ 188 TCK). Gerichte stufen den Fall jedoch als Eigenkonsum (§ 191 TCK) ein, wenn:
Der Angeklagte langjähriger Konsument ist
Keine Indizien für Verkauf oder Handel bestehen
Die Substanz in einer einzelnen Portion sichergestellt wurde
Keine belastenden Kommunikationsnachweise vorliegen
Gerichte ordnen daraufhin häufig HAGB an und leisten so einen Beitrag zur Resozialisierung und gesellschaftlichen Sicherheit.
Gesetzliche Grundlagen und Rechtsprechung
§ 191 TCK – Drogenbesitz zum Eigenverbrauch
§ 231 CMK – Zurückstellung des Strafurteils (HAGB)
§ 188 TCK – Drogenhandel
Verfassungsgericht Türkei 2015/85 – Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit von HAGB
Kassationsgerichtshof 10. Strafsenat E.2020/1234, K.2021/4567 – Tatqualifikation und Kriterien
Bedeutung von HAGB aus strafpolitischer Sicht
HAGB ist ein zentrales Instrument zur Entlastung des Justizsystems und zur Reintegration von Ersttätern:
Entlastung der Gefängnisse
Keine Eintragung im Strafregister
Förderung von Therapie statt Bestrafung
Chance auf einen echten Neuanfang
Gerade bei Drogendelikten wird durch die Kombination aus HAGB und Bewährung die heilende und präventive Funktion des Strafrechts deutlich gestärkt.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Kann jemand für Eigenkonsum ins Gefängnis kommen?
→ Ja, das Gesetz sieht bis zu 5 Jahre vor. Bei Ersttätern wird aber meist HAGB und Bewährung angewendet.
Erscheint HAGB im Führungszeugnis?
→ Nein. Es wird nicht im polizeilichen Führungszeugnis eingetragen, sondern nur im Justizsystem dokumentiert.
Was passiert bei Verstoß gegen Auflagen während der Bewährungszeit?
→ Das Gericht hebt die HAGB auf, verkündet das Urteil, und die Strafe wird vollstreckt.
Fazit und Bewertung
Die Anwendung von § 191 TCK und HAGB zeigt, dass das Strafrecht nicht nur auf Bestrafung, sondern auch auf Wiedereingliederung und soziale Verantwortung abzielt.
Die Verteidigung sollte alle verfahrensrechtlichen und materiellrechtlichen Vorteile ausschöpfen. Gleichzeitig müssen Gerichte bei Zweifeln über die Handelsabsicht stets zugunsten des Angeklagten entscheiden – in dubio pro reo.